Brief vom 5. Juni 1759, von Sulzer, J. G. an Künzli, M.

Ort: Berlin
Datum: 5. Juni 1759

Mein liebster Freünd.

Ich hatte schon durch den Hrn. Dir. Schultheiß erfahren, daß eine ungeschikte und verwünschte Hand das Bild des Königs verdorben, das unserem Bodmer so viel Vergnügen gemacht hatte. Ich habe nun wieder ein anderes, das eben so ist angeschaft; aber ich kann es der Post noch nicht anvertrauen. Die Briefe gehen durch Örter, wo die ReichsArmee alles durchsucht, und es würde mich zu sehr ärgern, wenn ein solches Ding in unwürdige Hände fiele. Unser Freünd muß sich also noch eine Zeit lang gedulden, sein Verlust soll ihm gewiß ersezt werden. Es ist ganz natürlich, mein werthester Freünd, daß Sie zwischen diesem Bilde und dem ihrigen wenig ähnlichkeit sehen. Ein Gesicht sieht im Profil allemal ganz anders aus als in einer geraden Ansicht. Nur ein Maler kann die Ähnlichkeit in beyden entdeken. Ihr Bild ist ganz aus dem Kopf gemalt, weil man keines hatte, das nach dem Leben gemalt war; es hat also so viel Ähnlichkeit, als es auf diese Weise haben konnte, und muß nothwendig unvollkommen seyn. Das lezte habe ich auf folgende weise bekommen. Die Königin besizt ein Bild in Lebensgröße, welches würklich nach der Natur, aber vor 20 Jahren gemacht worden und damals sehr ähnlich war. Weil es in Profil ist, und also zu einer Medaille sich gut schiket, so wollte ich dem Medailleur Moerikofer in Bern, eine Copey davon machen laßen. Die Königin erlaubte nicht nur daß ich daßelbe konnte copiren laßen, sondern Sie kam zu uns, als der Maler damit beschäftiget war, und rieth verschiedenes darin zu ändern um das Bild nach dem iezigen Alter des Königs ähnlich zu machen. Sie blieb auch so lange bey dem Maler, bis die völlige Ähnlichkeit erkannt wurde. Eben der Maler, der das ihrige gemacht hat, machte das neüe, und der ganze Hof fand es so gut, daß ich es für unsre Prinzen und Prinzeßinnen und mehr Personen über 20 mal habe copiren laßen. Es ist also das zuverläßigste Bild dieses so merkwürdigen Menschen. Das erste, das in Gegenwart der Königin ist gemalt worden, habe ich an Moerikofern geschikt, der die Medaille danach machen wird.

Ich habe seit einiger Zeit nicht an Sie geschrieben, weil ich gerne warten wollte, bis ich Ihnen wichtige Neüigkeiten melden könnte. In unseren Gegenden steht alles beynahe noch so, wie zu Anfange des Frühlings. Es scheinet mir offenbar zu seyn, daß der König nichts hat unternehmen wollen, so lange der Prinz Heinrich so weit von Sachsen weg gewesen. Denn so lange der Ausgang solcher wichtigen Unternehmungen ungewiß bleibet, erfodert die Klugheit seine Anstallten auf alle fälle zu machen. Nunmehr aber, da der Prinz Heinrich wieder zurüke ist, dörfften bald wichtige Scenen sich eröfnen. Dieser Prinz hat nicht nur die meisten Magazine der Feinde zernichtet, und ihre Armee um einige Tausend Man geschwächet, sondern so viel Briefschaften von den feindlichen Höfen in die Hände bekommen, daß wir von allen ihren Anschlägen, ihren guten und bösen Umständen u. ihren Gesinnungen untereinander so gut unterrichtet sind, als wenn sie uns zu ihren geheimen Berathschlagungen geruffen hätten. In Wahrheit die Vorsehung sorget vor uns!

Jezo glaubt man, daß in wenig Tagen die Scene in Böhmen sich eroffnen werde. Ich werde, so bald etwas von Wichtigkeit vorfallen wird Ihnen Nachricht geben. Die Rußen laßen sich in unseren Gränzen noch nicht anders, als in streiffenden Partheyen sehen. Sie sind würklich nicht im Stande mit gehörigem Nachdruk zu komen. Wir haben ein Heer gegen Sie, das ihnen sehr gewachsen ist, wenn es gut angeführt wird. Wenn nur der König an allen Orten seyn könnte. Die Trupen der Feinde kommen aus Böhmen häuffig zu uns herüber, und man kann deütlich sehen, daß sie den Muth ziemlich haben sinken laßen. Vielleicht gefällt es der Vorsehung dies Jahr dem Elend der Völker ein Ende zu machen.

Ich gehe iezo mit allen Seegeln in meiner Arbeit über die Künste fort, und es scheinet mir bisweilen, daß ich von weitem Land erblike. Aber ofte ist es eine bloße Täuschung. Hätte ich von Anfang gewußt in was für ein weites Meer ich so kühn und so leichtsinnig abstieß, so würde ich mich nicht herein gewaget haben. Aber iezo bereue ich die Verwegenheit nicht. Geduld und Muth überwindet alles. Ich werde, wie Colombo nur an die Inseln des fernen Welttheiles komen, und da einen sicheren Aufenthalt gründen, nach mir wird wol ein Amerikus und ein Magellan komen, das Land vollends zu entdeken. Jezo wünsche ich ernstlich so lange zu leben, bis ich dieses werde ausgeführt haben. O Wenn ich Sie, mein theürer Freünd zum Begleiter auf dieser großen und gefährlichen Reise haben könnte! Wie viel leichter und angenehmer und sicherer würde sie mir seyn!

Vor einiger Zeit kam mein neveu, des seel. Dechant Brunners Sohn hieher. Er ist ein rechtschaffener Jüngling, der mir lieb und werth ist -– Ich freüe mich über die Veränderungen in Zürich. Wenn Sie nicht selbst Gelegenheit haben den neüen Hrn. Sekelmeister bald zu sehen, so laßen Sie durch unseren Bodmer mich ihm empfehlen und ihm meine Freüde über seine Erhöhung bezeügen. Gott erhalte ihn, bis er zur Höchsten Würde gestiegen ist, und alles gute gestiftet hat, das von einem Mann von seinen Verdiensten zu erwarten steht.

Es ist mir lieb, [→]daß Wieland in einen anderen Canton versezt wird. Ich war immer besorget, etwas verdrießliches zu hören, so lange er noch in Zürich war. Aber wie wird er mit seinen neüen Gönnern zurechte kommen? Sind es Leüthe denen seine Verdienste so gefallen, daß sie für die Fehler seines Temperaments und seiner Erziehung die gehörige Nachsicht haben werden? Ich hoffe, daß [→]die Anstallten, welche man in Bern zu Ausbreitung nüzlicher Erkenntnis macht, in Zürich so viel Aufsehen erweken werden, daß man auch anfangen wird, von der Theorie zur Ausübung zu schreiten. Die Physische Gesellschaft daselbst lebt gar zu sehr im Verborgenen. Der Mahler Füßli hat allein schon weit mehr Ehre für sich erworben, als diese ganze Gesellschaft.

Wir haben hier den Brief bekommen den Voltaire neülich an Hallern geschrieben, nebst der Antwort des lezteren, die jedem ausnehmend gefallen hat. Dies war der einzige wahre weg, dem alten Sünder die Wahrheit zu sagen. Die Vorige Woche haben wir bey der Academie, wieder einen Preis ausgetheilt. Er fiel dies mal mit recht dem göttingischen Prof. Michaelis zu, weil seine Schrift die beste war, ob er gleich verschiedene wesentliche Fragen kaum obenhin berührt hat. Wir haben ihm dabey wißen laßen, was wir noch über das, was er gethan, erwartet haben. Vielleicht sezt er die Untersuchung fort; wenn dieses nicht geschiehet, so bin ich der Meinung, daß man den Theil der Frage, wie die Vollkommenheit der Sprache, auf die richtigkeit und Vollkommenheit der Verschiedenen Verrichtungen des Geistes, einfließe und sie befördere, noch einmal zum Preis vorzulegen.

Sehen Sie mein theürer Freünd, daß ich Lust habe über viele Dinge mit Ihnen zu schwazen. Heüte würde ich Ihnen den längsten Brief schreiben, wenn ich nur Zeit dazu hätte. Aber ich muß diesen Vormittag noch mehr Briefe schreiben, und ich kann dieses nicht bis Nachmittag aufschieben, weil es gar zu ungewiß ist, daß ich alsdenn Zeit dazu habe. Grüßen Sie unsre Freünde von mir. Ich bin von Herzen der ihrige

Sulzer

den. 5 des Brachm.

Überlieferung

H: SWB, Ms BRH 512/73.

Eigenhändige Korrekturen

Ding in unwürdige Hände
Ding ⌈in⌉ unwürdigen Händen
Umständen u. ihren Gesinnungen
Umständen ⌈u.⌉ ihren Gesinnungen
daß sie für die Fehler
daß sie gegenfür⌉ die Fehler

Stellenkommentar

das Bild des Königs
Die Kopie, die Sulzer an Bodmer nach Zürich verschickt hatte, basierte auf einem Porträt Friedrichs II. von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff aus dem Jahr 1737. Der Kopist ist unbekannt. Vgl. dazu auch SGS, Bd. 10/1, Brief Nr. 170. Eine weitere, 1759 an Zellweger übersandte Kopie befindet sich heute im Zellweger-Zimmer im Gemeindehaus in Trogen. Abgebildet in: SGS, Bd. 10/1, Tafel 16.
dem ihrigen
Ein wohl von Sulzer für Künzli angeschaffte Porträt des Königs in Frontalansicht, möglicherweise die Kopie eines der Feldherrnporträts von Antoine Pesne, nicht ermittelt.
dem Medailleur Moerikofer
Johann Melchior Mörikofer (1706–1761) aus Frauenfeld war seit 1755 als Medailleur in Bern tätig. Die von ihm geschaffene Medaille, die das Profilbildnis Friedrichs II. wiedergibt, trägt die Aufschriften: »Fridericus Magnus Rex Borussorum« (Vorderseite) und »Veritatis Paradoxa« (Rückseite). Über den Verbleib der von Sulzer erwähnten Urkopie ist nichts bekannt.
meiner Arbeit über die Künste
Gemeint ist Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste, die in zwei Bänden 1771/1774 erschien. Seit 1756 arbeitete er an diesem Projekt, an dem ursprünglich mehrere mit ihm befreundete Verfasser sich beteiligen sollten.
mein neveu
Salomon Brunner (1732–1806), der Sohn von Sulzers Schwester Verena, lebte seit Anfang 1759 in Berlin.
neüen Hrn. Sekelmeister
Johann Conrad Heidegger (1710–1778), der mit Bodmer, Breitinger und Künzli eng befreundet war, hatte eine vorbildliche politische Karriere. Nachdem er lange Landschreiber in Zürich war, wurde er 1759 zum Seckelmeister ernannt. In diesem Amt vertrat er oft die Interessen Zürichs auf der eidgenössischen Tagsatzung, in den Genfer Unruhen oder auch im Toggenburg Handel. 1768 wurde er – gemäß der Vorhersage Sulzers – Bürgermeister.
daß Wieland in einen anderen Canton ...
Im Juni 1759 übersiedelte Wieland, der seit 1752 in Zürich lebte, und übernahm dort die Erziehung der Söhne Friedrich von Sinners.
die Anstallten ... zu Ausbreitung nüzlicher Erkenntnis
1759 wurde in Bern eine der ersten europäischen Ökonomischen Gesellschaften gegründet, die sich als gelehrte Gesellschaft für eine Wissensmaximierung vor allem im Bereich der Landwirtschaft einsetzte. Albrecht von Haller wurde zu ihrem Präsidenten gewählt.
Physische Gesellschaft
Die Physikalische Gesellschaft in Zürich wurde 1746 vom Zürcher Naturforscher und Professor für Physik Johannes Gessner gegründet. Zu den Mitgründern zählte auch Johann Conrad Heidegger. Erst ab 1761 veröffentlichte die Gesellschaft Sammelbänder zu ihren Forschungen. Sarah Baumgartner stellt dazu fest: »Während die Herausgabe von Zeitschriften, die zumeist an das gebildete Publikum gerichtet waren, zu den wichtigsten Aktivitäten vieler gelehrter und ökonomischer Sozietäten zählte, lag es der Zürcher Gesellschaft nicht unbedingt daran, ihre naturkundlichen Beschäftigungen nach aussen zu tragen. Sie wollte sich primär der Informationsvermittlung vor Ort widmen.« (S. Baumgartner, Medien und Kommunikationspraxis der physikalischen Gesellschaft Zürich und ihrer ökonomischen Kommission. In: Jahrbuch der schweizerischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, 6 (2015), S. 45–60, hier S. 51.
Der Mahler Füßli
Johann Caspar Füssli (1706–1782), dessen Porträts in den Zürcher Kreisen verbreitet waren, bemühte sich auch intensiv um die Schweizer Kunstgeschichte und publizierte v. a. die Geschichte und Abbildung der besten Mahler in der Schweitz, 1754–1757.
Voltaire neülich an Hallern geschrieben
Die vier Briefe und vier Gegenbriefe umfassende Korrespondenz zwischen Voltaire und Haller 1759 wurde zunächst nur handschriftlich weitergereicht. Sulzer bezieht sich wohl auf den ersten Brief Voltaires vom 13. Februar 1759 und Haller Antwort. Der Briefwechsel ging auf die anonym vom Verleger François Grasset in Lausanne herausgegebene Sammlung von satirischen und kritischen Schriften gegen Voltaire unter dem Titel Guerre littéraire zurück: Dieser suchte Unterstützung bei Haller, der dies höflich, aber deutlich ablehnte. Die Briefe ließ er 1772 in der Sammlung kleiner Hallerischer Schriften, Bd. 3, S. 353–373, drucken.
einen Preis
Die Preisfrage der Berliner Akademie für das Jahr 1759. Johann David Michaelis' Schrift wurde gekrönt und 1760 unter dem Titel Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen veröffentlicht.

Bearbeitung

Kommentar: Baptiste Baumann
Status: In Bearbeitung